Maschinelles Lernen in der Medizin
Datengestützte Diagnostik verbessert Gesundheit von Frühgeborenen

Frühchen werden vor der vollständigen Reifung ihrer Organsysteme geboren und haben oft mit verschiedenen Gesundheitsproblemen zu kämpfen, die als »Morbiditäten« bezeichnet werden. Diese treten selten isoliert, sondern oft gleichzeitig auf. Zusammenhänge oder gar Muster in ihrem gemeinsamen Auftreten zu erforschen, hilft, gezieltere und individuellere Pflegepläne für die frühgeborenen Babies zu entwickeln. Ein Projektbericht.

mask Blume mit Tau Nahaufnahme

Laut Statistiken der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für das Jahr 2020 wird weltweit mehr als eines von zehn Babys zu früh geboren, was Frühgeburtlichkeit zur häufigsten Todesursache bei Kindern unter fünf Jahren macht [1]. Babys, die vor der 32. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen, auch »sehr Frühgeborene« genannt, sind aufgrund ihrer unterentwickelten Organsysteme nicht ausreichend auf das Leben außerhalb des Mutterleibs vorbereitet.

Aufgrund der Unreife ihres Körpers entwickeln sehr Frühgeborene häufig Morbiditäten, die vor allem das kardiopulmonale und das zentrale Nervensystem betreffen. Diese Erkrankungen beeinträchtigen nicht nur ihren allgemeinen Gesundheitszustand, sondern beeinflussen auch die Entwicklung weiterer Komplikationen, die sich langfristig auf ihr Leben auswirken können.

Die Fragilität der Gesundheit von Frühgeborenen

Es wurde häufig beobachtet, dass Morbiditäten nicht isoliert, sondern in verschiedenen Kombinationen auftreten. Manchmal lässt sich dies durch eine gemeinsame Ursache erklären. Wenn Morbiditäten gleichzeitig auftreten, können sie sich auch gegenseitig in ihrem Verlauf beeinflussen.

Die Untersuchung von Zusammenhängen zwischen Morbiditäten und die Identifizierung klinischer Morbiditätsmuster liefern häufig wertvolle Erkenntnisse zur Charakterisierung des Gesundheitszustands von Frühchen. Frühere Studien konzentrierten sich hauptsächlich auf einzelne Morbiditäten oder auf vereinzelte Paare, jedoch bleibt das Verständnis des komplexen Gesamtbilds noch unvollständig.

Erkennen von Mustern: ein datengestützter Ansatz

In Zusammenarbeit mit dem Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München hat das Fraunhofer-Institut für Kognitive Systeme IKS einen datengesteuerten Ansatz entwickelt, der auf zwei Kohorten von insgesamt 530 sehr frühgeborenen Babys basiert. Davon stammten 173 Babys aus der AIRR-Studie (»Attention to Infants at Respiratory Risks«, LMU Klinikum) und 357 Kinder aus der NEuroSIS-Studie (»Neonatal European Study of Inhaled Steroids«, Universitätsklinikum Tübingen). Die Analyse des Fraunhofer IKS geht über die einfache Betrachtung von paarweisen Korrelationen hinaus, indem das gemeinsame Auftreten von Morbiditäten untersucht wird, um ein umfassendes Bild der Morbiditätslandschaft zu gewinnen. Dabei konzentrierten sich die Forscherinnen und Forscher auf fünf wichtige Morbiditäten, die das kardiorespiratorische und das zentrale Nervensystem betreffen:

  • Bronchopulmonale Dysplasie: Eine Erkrankung der Lunge des Frühgeborenen, die häufig eine Sauerstoffunterstützung erfordert;
  • Pulmonale Hypertonie: Eine Erkrankung, die durch hohen Blutdruck in den Lungengefäßen gekennzeichnet ist;
  • Milde kardiologische Defekte: Kleine Herzfehler, die durch eine Ultraschalluntersuchung des Herzens entdeckt werden;
  • Perinatale Hirnpathologie: Veränderungen oder Abnormalitäten des Gehirns, die mit Bildgebungstechniken erkannt werden;
  • Frühgeborenen-Retinopathie: Eine Augenkrankheit, die bei Frühgeborenen auftritt und ihre Sehkraft beeinträchtigen kann.
EN Grafik Fruehgeborene
Bild

Fünf wichtige Morbiditäten, die bei sehr frühgeborenen Babies auftreten.

Dieser schrittweise, datengestützte Ansatz geht von der Einzelanalyse zum Gesamtbild. In einem ersten Schritt werden die Morbiditäten paarweise betrachtet und quantifiziert, inwieweit das Auftreten von zwei Morbiditäten korreliert ist. Dann hat das Fraunhofer-IKS-Team seine Perspektive erweitert, um alle Morbiditäten gleichzeitig zu betrachten und Muster des gemeinsamen Auftretens zu identifizieren. Zum Schluss wurden die Frühchen nach ihren Morbiditäten kategorisiert, um Gruppen mit ähnlichen Risikoprofilen zu identifizieren. Der Ansatz des Fraunhofer IKS nutzt sowohl Methoden der statistischen Analyse als auch des unüberwachten Maschinellen Lernens.

Erkenntnisse zu Morbiditätsmustern

Die Analyse liefert eine umfassende Charakterisierung der Morbiditätsmuster bei Frühgeborenen. Hier sind einige der wichtigsten Erkenntnisse:

  • Stärkster Zusammenhang zwischen Morbiditäten: Die stärkste Korrelation wurde zwischen Bronchopulmonale Dysplasie (Lungenerkrankung) und Frühgeborenen-Retinopathie (Augenerkrankung) beobachtet. Das bedeutet, dass Frühchen mit Lungenerkrankungen ein höheres Risiko haben, auch Augenprobleme zu bekommen. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass sie gemeinsame Ursachen haben, wie z. B. Entzündungen im Körper oder genetische Veranlagungen, die beide Erkrankungen begünstigen.
  • Lungenerkrankung, wichtiger Risikofaktor, aber nicht das ganze Bild: Bronchopulmonale Dysplasie (Lungenerkrankung) wird häufig als Schlüsselfaktor für die Entwicklung von anderen Morbiditäten angesehen. Die Forscherinnen und Forscher haben das Risiko von Morbiditäten in Patientengruppen mit unterschiedlichen Schweregraden der Lungenerkrankung verglichen. Dabei zeigte sich, dass die Bronchopulmonale Dysplasie zwar eine wichtige Rolle spielt, jedoch allein nicht den gesamten Gesundheitszustand eines Frühchens widerspiegelt.
  • Isolierte Morbiditäten: Etwa 20-25 % der Patienten in den zwei Kohorten wiesen isolierte Morbiditäten auf, d.h. nur ein Gesundheitsproblem. Allerdings trat Pulmonale Hypertonie (Herz-Kreislauf-Erkrankung) nie allein auf, sondern immer zusammen mit anderen Morbiditäten.
  • Morbiditätsbelastung: Mithilfe von unüberwachtem maschinellem Lernen haben wir Gruppen von Patienten mit ähnlichen Morbiditätsmustern identifiziert. Mit dem Begriff "Morbiditätsbelastung" bezeichnen wir die Anzahl und den Schweregrad der Morbiditäten, die ein Frühchen aufweist (dabei gilt: ein Frühchen ohne Morbiditätsbelastung weist keine Gesundheitsprobleme auf, während eine hohe Morbiditätsbelastung das Vorhandensein von mindestens vier von fünf Morbiditäten bezeichnet). Unsere Analysen zeigten, dass die Morbiditätsbelastung zwischen einzelnen Gruppen variiert. So fällt etwa ein Viertel der Patienten in die Gruppe mit geringer Morbiditätsbelastung, d. h. sie haben weniger Gesundheitsprobleme. Herz-Kreislauf-Probleme sind dagegen eher in Gruppen mit höherer Morbiditätsbelastung zu finden, also bei Patienten mit schwereren und zahlreicheren Gesundheitsproblemen.

Paper

Weitere Ergebnisse zu der hier beschriebenen Analyse finden Sie in folgendem Paper:

»Delineating morbidity patterns in preterm infants at near-term age using a data-driven approach«

Paper Pfeil nach rechts

Diese Erkenntnisse sind ein wichtiger Schritt zum besseren Verständnis der gesundheitlichen Herausforderungen von Frühgeborenen. Die Identifizierung von Morbiditätsmustern und das Verständnis des komplexen Gesamtbildes ebnen den Weg für eine Entwicklung personalisierter Nachsorgestrategien, welche die Gesundheit von Frühgeborenen signifikant verbessern können.


[1] World Health Organisation, "Preterm birth," 2023. [Online]. Available: https://www.who.int/news-room/...


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